Zeit um zu Leben

 

 Die letzten Tage waren die härtesten in meinem Leben.

 

Mein Pferd Fjala leidet schon seit vielen Jahren unter Arthrose. Diese wurde in den Jahren immer stärker, sie hatte gute Phasen und schlechte Phasen, schleichend schränkte sich ihre Bewegungsfähigkeit ein. Wir machten Schrittausritte und irgendwann gingen wir spazieren. Das war ok, der Wald bot uns immer einen Ort der Ruhe und Kraft und die Gerüche und Geräusche um uns herum beruhigten meine Seele, egal ob ich jetzt auf ihr saß, oder neben ihr herging. Sie reagierte auf meine Körpersprache und meine Launen und gab ihre unglaublich ausgeprägte innere Ruhe und ihr Vertrauen in die Welt an mich weiter. Zwischendurch machten wir Pausen, sie verschlang das frische Gras und kaute zufrieden das gerupfte Grün, und ich setzte mich daneben, beobachtete sie, die Vögel, die Bäume und meine Hündin Linda, die es liebt, sich in dem langen Gras zu verstecken und dann plötzlich herauszuschießen und voller Lebensfreude um uns herumzurennen. Fjala störte es nicht. Sie ist unerschrocken. Sie lässt sich durch nichts aus dem Konzept bringen, schon gar nicht durch einem durchgeknallten Hund.

 

Plötzlich veränderte sie ihr Verhalten. Sie wollte nicht mehr mit uns spazieren gehen. Wenn sie auf ihrem Paddock war, blieb sie immer nah an der Tränke, als hätte sie Angst zu verdursten. Ihre Beine waren müde und sie hatte Probleme, die Balance zu halten. Ich sprach mit Experten, Freunden, Bekannten. Als die Situation nach ein paar Tagen nicht besser wurde, entschied ich mich, ihr Leben zu beenden. Mir ging es nicht gut damit. Ich wollte keinen Termin abmachen und ihre verbleibenden Stunden und Sekunden auf dieser Erde festlegen. Aber sie schien es mir befohlen zu haben. Und so kämpfte ich mit mir, machte unter Tränen ein Datum mit dem Tierarzt fest, heulte mich in den Schlaf und wachte dann Nachts auf, um stundenlang an sie zu denken und mich mit der Vorstellung abzufinden, dass ich bald ohne sie sein würde. Mein Körper war völlig ausgelaugt, ich hatte keine Energie mehr, mein Geist war völlig vernebelt.

 

An dem besagten Tag fuhr ich früh in den Stall. In ein paar Stunden sollte der Tierarzt kommen. Ich setzte mich zu ihr auf die Wiese und beobachtete sie. Sie kaute auf dem grünen Gras herum und schien sich nicht von all dem Trubel aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie war so friedlich. Ich erzählte ihr, welche Erinnerungen ich aus unserer langen gemeinsamen Zeit bei mir tragen werde. Ich erzählte ihr, wie dankbar ich für diese vielen gemeinsamen Stunden bin. Und ich erzählte ihr, dass ich sie liebe. Und dann versuchte ich mir vorzustellen, was mit ihrer Seele passiert. Ob sie Bruno, mein erstes Pony wiedersehen würden, den sie damals abgöttisch geliebt und vor anderen Pferden beschützt hatte. Oder ob es einfach nur dunkel wird um sie. Ich wünschte ihr eine gute Reise, wo auch immer diese hinführen würde.

 

Dann gingen Linda und ich spazieren. Es war nicht dasselbe ohne sie, wir hetzten durch den Wald. Die Zeit drängte. Der Termin rückte immer näher. Unterwegs trafen wir bekannte Gesichter. Ich unterhielt mich über die Tücken des Alltags. Wie unbefriedigend es ist, jeden Tag dieselben Dinge zu machen. Immer wieder. Wie man sich im Alltag verliert, wie der Alltag einen aushöhlt und leer dastehen lässt. Ich wünschte mir in diesem Moment meinen Alltag zurück. Einen Alltag mit Fjala. Einen Alltag ohne das ständige Denken an den Tod. Unterwegs pflückte ich Blumen. Diese sollten ihren toten Körper schmücken. Eine letzte Ehre an diese großartige Freundin.

 

Als wir im Stall ankamen, hatten wir nur noch eine halbe Stunde Zeit. Ich holte Fjala von ihrem Paddock. Sie folgte mir ohne zu zögern. Ich servierte ihr ihre Henkersmahlzeit. Sie liebt Bananen, also hatte ich am Vortag welche gekauft, um damit ihr letztes Mahl aufzupeppen. Sie aß alles auf, bis auf ein paar Happen, die sie immer für ihre beste Pferdefreundin übrig lässt. Nun hatten wir nur noch eine Viertelstunde. Ich wurde unruhig. Will sie wirklich heute sterben? Muss sie heute wirklich sterben? Was, wenn es noch nicht Zeit hierfür ist?

 

Ein letzter Versuch, dachte ich. Wir unternehmen einen letzten Versuch. Ich führte sie nach draußen. Dort stand ein Hänger, der sonst nicht an diesem Platz steht. Fjala streckte neugierig ihre Nüstern in seine Richtung. Sie näherte sich dem Gefährt und untersuchte aufmerksam den Geruch. Ich lief weiter. Sie folgte mir. Wir näherten uns dem Ausgang des Hofes. Ich zögerte. Gleich wird sie anhalten, dachte ich. Gleich wird sie sagen: Nein, ich verlasse diesen Hof nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, zu meiner Herde, zu meinem Zuhause zurückzukommen.

 

Aber sie hielt nicht an. Sie folgte mir weiterhin, die Ohren gespitzt, der Gang steif aber energisch. Wir liefen weiter. Der Reitplatz war nicht mehr weit entfernt. Bis zur Kurve, dachte ich. Wenn sie es bis zur Kurve schafft, dann hat die Grenze durchbrochen, die all die letzten Tage existierte. Ich hielt meinen Atem, als wir diese Grenze überschritten. Ich lief ein paar Schritte weiter und Fjala lief an meiner Seite. Sie überholte mich, als wolle sie sagen: Na, was ist jetzt? Willst du nun spazieren gehen oder nicht? Und ich atmete nur tief aus.

 

Einige Entscheidungen dauern Monate, selbst Jahre, bis sie getroffen werden. Einige Entscheidungen zögern sich so lange heraus, bis sie sich verselbstständigen. Aber in diesem Moment kam sie wie ein Blitz, der in mich hineinschlägt. Fjala wollte nicht sterben. Nicht an diesem Tag.

 

Es kann sein, dass heute dieser Tag ist, an dem sie diese Welt verlässt. Es kann sein, dass dieser Tag in ein paar Wochen sein wird, in einem Monat, oder vielleicht auch noch zu einem späteren Zeitpunkt. Es ist egal. Er war nicht gestern. Gestern wollte sie leben.

 

Die letzten Tage waren die schwersten meines Lebens. Aber sie hatten einen Zweck. Ich habe mir vorgenommen, diese zusätzlich gewährte Zeit zu genießen. Die kleinen Momente des Lebens als ein Geschenk anzusehen. Nicht stumm und mit benebeltem Kopf durch die Welt zu gehen, sondern tief ein- und auszuatmen und präsent zu sein. So oft es geht.

 

Alltag kann uns quälen. Alltag kann zu etwas werden, das wir kaum aushalten können. Routineaufgaben können unsere Sinne verstopfen. Und doch entscheiden wir uns für Dinge, weil wir es wollen. Ich will meine Zeit mit diesem Pferd verbringen. Ich will es umhegen und pflegen und Spaziergänge im Wald unternehmen. Ich will täglich in ihre sanften Augen blicken und ihr weiches Fell spüren. Vielleicht hört sich das nicht sehr spannend an. Aber das ist es. Und irgendwann ist es vorbei. So wie alles.

 

Alles ist endlich. Nur manchmal gibt es noch ein kleines bisschen mehr. Manchmal bekommt man einen Nachschlag. Manchmal hat man noch ein kleines bisschen Zeit. Zeit, um zu Leben.

 

 

 

Hilfe, mein Pferd ist alt

 

Mein Buch „Stallgeflüster – Die Wahrheit über Pferde und ihre Menschen“ widmet sich in seinem letzten Kapitel den Pferderentnern. Ein altes Pferd hat meist schon einen langen Weg mit uns zurückgelegt. Es war in jungen Jahren unser Freund und Begleiter, hat bei manchen menschlichen Dramen Trost gespendet und weckt große Erinnerungen an wunderschöne Ausritte und wendyreife Abenteuergeschichten.

 

Irgendwann werden wir alle alt, und meist weicht die Leichtigkeit einer gewissen Schwere, der Angst um Krankheiten und Wehwehchen, und vor allem der Angst um den Abschied, auf den der Pferdebesitzer unweigerlich zusteuert. Denn bei aller guten Pflege und Fürsorge, die Lebensspanne unserer Lieblinge lässt sich nicht endlos überbieten. Irgendwann reicht die Kraft nicht mehr.

 

Ein altes Pferd zu haben ist also nicht immer leicht, vor allem, wenn man dieses Pferd schon sein Leben lang kennt. Mein Pferd und ich kennen uns nun schon seit 23 Jahren, und in letzter Zeit scheint die Arthrose immer mehr an Land zu gewinnen. Ihre Bewegungsabläufe werden steifer und sie braucht immer mehr Zeit, um sich „einzulaufen“. Ich nehme diese Tatsache mit Bekümmerung wahr, und trotzdem versuche ich, jeden einzelnen Tag mit ihr zu genießen und ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.

 

Wir haben schon viel ausprobiert, mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Auf dieser Seite möchte ich speziell auf die Bedürfnisse alter Pferde eingehen, um meine Erfahrungen zu teilen und Hilfestellung zu geben. Denn was mir in all meiner Sorge um mein altes Pferd am meisten geholfen hat – das ist der Austausch mit Pferdebesitzern und ihren Pferden, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.

 

 Eingefangen in Bildern

 

 

 

Du bist immer noch schön.

 

Wenn wir zusammen durch den Wald streifen rufen uns die Spaziergänger „Black Beauty“, und „Schönes Tier“, hinterher und sie meinen damit nicht mich.

 

Es ist alles so wie früher.

 

Dein rabenschwarzes Haupthaar glänzt in der Sonne und du streckst deinen Kopf der Freiheit entgegen, wie damals.

 

Du lauschst meinen Bewegungen und du trägst mich sicher nach Hause, so wie ich mich immer auf dich verlassen konnte.

 

Erneut bietet dein sanftes Wesen meiner rastlosen Seele einen sicheren Hafen.

 

Deine Augen nehmen wach und voller Neugier die Welt um dich herum wahr, sie sind noch nicht müde von all dem, was sie von der Welt gesehen haben.

 

Du könntest wieder auf Entdeckungsreise gehen. Wieder und immer wieder.

 

Nur tragen deine Beine dich nicht mehr so zuverlässig wie damals.

 

Es gibt Tage, da wollen sie dir nicht gehorchen und machen jeden deiner Schritte zur Qual.

 

An diesen Tagen wird mein Herz ganz schwer und dein Blick bohrt einen Schmerz in mich herein, der schwer auszuhalten ist.

 

„Tu was!“, scheinst du zu sagen, „du hast mir doch immer geholfen“, und du hast Recht, ich konnte dir bis jetzt immer helfen.

 

Du weißt nicht, wie sehr ich diesen Tag fürchte, an dem ich dir nicht mehr helfen kann.

 

Der Tag, an dem ich an deiner Seite knie, und wir für immer getrennte Wege gehen müssen.

 

Ich hoffe so sehr, ich habe die Weisheit, zu erkennen, wann dieser Tag gekommen ist.

 

Und dass ich den Mut habe, dich bis zur allerletzten Sekunde zu begleiten.

 

Doch am Meisten hoffe ich, dass ich dir deine Entscheidung aus den Augen ablesen konnte.

 

Das bin ich dir schuldig.

 

 

 

Du bist immer noch schön.

 

Auf den Bildern spitzt du die Ohren und gehst dynamisch auf die Welt zu.

 

Langsamer als vor zwanzig Jahren.

 

Bedachter.

 

Und mir fällt auf, dass deine Rundungen eckiger geworden sind.

 

Ich sehe deine grauen Haare, die vereinzelt aus dem Schwarz herausblitzen.

 

Du hast ein paar kahle Stellen, die außer mir niemand sieht.

 

Du hast weniger Muskeln.

 

Deine Brust ist viel schmaler.

 

Du wirkst fast zerbrechlich.

 

Wir sind alt geworden.

 

So schleichend.

 

 

 

Und hätte ich nicht die Bilder von dir, wäre es mir nur an deinem Gang aufgefallen.

Aber hier steht es schwarz auf weiß, eingefangen in Bildern.